Arbeitsgruppe 5

Zurück zur Bundestreffen-Seite

Arbeitsgruppe 5:
Auswirkungen der globalen Finanzkrise auf die Arbeit der Medizinischen Flüchtlingshilfen

Ausgangswidersprüche:
Bundesweit entstehen immer mehr Medibüro Projekte (31 Medibüros), es werden immer mehr PatientInnen versorgt, es werden horrende Summen an Geld umgesetzt, insgesamt werden die Projekte immer professioneller geführt, wir sind anerkannte „Player“ in der Charity-Industrie und gern gesehene VerhandlungspartnerInnen von Parteien und Behörden. Gleichzeitig formulieren und verfolgen viele Gruppen weiterhin das Ziel sich selber überflüssig zu machen bzw. sich abzuschaffen.
Über die langen Jahre unseres Bestehens ist unser Arbeitsfeld immer komplexer geworden. Gleichzeitig sind wir innerhalb dieses Arbeitsfeldes immer mehr zu ExpertInnen gewachsen. Wir kennen die Abläufe in den Krankenhäusern und Arztpraxen, die Abrechnungswege, die Rechtslagen was Aufenthaltsgesetz, AsylbLG etc. angeht. Wir kennen die Landschaft der sozialen Einrichtungen in den jeweiligen Städten und die Menschen in den zuständigen Behörden. Wir kooperieren mit den Ärztekammern, geben Fortbildungen für Krankenhäuser und Behörden, sitzen in Beiräten und an Runden Tischen. Wir schreiben Konzepte und Verbesserungsvorschläge für städtische Projekte und Einrichtungen. Die Komplexität hat dabei ein Level erreicht, welches ohne Professionalisierung und bezahlte Stellen kaum zu durchsteigen ist.Dabei ist weiterhin das Ziel möglichst alle Menschen in das bestehende Gesundheits- und Sozialsystem zu integrieren.

Was läuft da falsch?
These: We don’t see the whole picture. Wir haben in unserer bisherigen Arbeit versäumt gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu antizipieren.
Wir wollen in diesem Workshop über die Krise des Kapitalismus reden.
Dabei wollen wir uns genauer anschauen welche neuen und komplexen gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen durch diese produziert werden und welche Auswirkungen das auf unsere Arbeit in den Medibüros hat.

1. Definition Krise:
Was meinen wir wenn wir von Krise sprechen?
In unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem kommt es seit jeher regelmäßig zu Wirtschaftskrisen.
Wirtschaftskrisen sind dabei Phasen des Konjunkturverlaufes im Kapitalismus.
Aufschwungphasen (Expansion, Prosperität)
Hochkonjunktur (Boom)
Abschwungphasen (Rezession)
Tiefphasen (Depression)
Ursachen der Krisen ist ein Grundwiderspruch im Kapitalismus: gesellschaftlicher Charakter der Produktion vrs. privater Produktionsmittel Besitz (Privateigentum an den Produktionsmitteln) – die Bewegung der Einzelkapitale ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge.
Während einer Krise kommt es zu Kapitalentwertung und -vernichtung, einem Sinken der Produktion, Pleiten und Wertverlust von Aktien
Das Ganze hat für die einzelnen Gesellschaften prekäre Folgen – Arbeitslosigkeit, Verarmung, Anomie etc.
Gleichzeitig werden durch Krisen im Kapitalismus die Bedingungen für das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft quasi gewaltsam wieder hergestellt.
In ihren Verheerungen erfüllen Krisen also eine erneuernde Funktion – was auch die Zyklizität von Krisen im Kapitalismus erklärt.
Man unterscheidet zyklische und systemische Krisen:
„Eine zyklische Krise, die im Schnitt alle zehn Jahre stattfindet, ist nichts anderes als die Bereinigung von Überkapazitäten, die sich in einem Boom aufbauen. Dann kommt eben ein in der Regel kurzer Abschwung.“
„Systemische Krisen heißen so, weil es in ihnen nicht mit einer kurzen Rezession getan ist, sondern weil in ihnen der Kapitalismus seinen Charakter ändert, ohne aufzuhören, Kapitalismus zu sein. Das ist dann um es mit einem Buchtitel von Elmar Altvater zu sagen, Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Anschließend kam in der bisherigen Geschichte dann eben ein anderer, ein neuer Kapitalismus.Krisen sind dem kapitalistischen System immanent eingeschrieben. “

2. Krise in Griechenland

Rolle Deutschlands: Mit der Agenda 2010 und der Schaffung von Leiharbeit und einem Niedriglohnsektor sanken die Reallöhne und die Lohnstückkosten welche in anderen Ländern stiegen und deren relative Höhe die Wettbewerbsfähigkeit bestimmt. Produktivitätsfortschritte wurden in Dtl. nicht an die Beschäftigten weiter gegeben (Sinken der Lohnquote in den letzten 20 Jahren). Die Serie der Exportweltmeisterjahre begann und damit der Niedergang der Niedergang der Peripherie.
Wie kann ein so kleines Land mit 2% am BIP der EU die Eu in Schwierigkeiten bringen?
Angst um das dorthin geliehene Geld deutscher und französischer Banken
Ausscheiden könnte als Zerfallsprozess der EU gesehen werden

Andere Länder (Italien, Spanien, Portugal, Japan) haben ähnlich hohe Staatsverschuldung und gleiche Probleme:
Weitgehend deindustrialisiertes Land
Entscheidend: Struktur der Verschuldung: 70% Auslandsschulden
Niedrige Unternehmenssteuern, Steuerhinterziehung der polit. Klasse
enorme Rüstungslasten
Überbesetzung des öffentlichen Sektors

Zeitliche Entwicklung
1981 Beitritt Griechenlands zur EG
Beginn der Deindustrialisierung des Landes
Textilindustrie wandert ab
EU-Osterweiterung, neue Länder produzieren billiger

1992 Maastricht Vertrag
Bis ’92 konnte Griechenland durch Abwertung der Drachme Wettbewerbsverzerrungen
ausgleichen (Exporte wurden billiger, Importe verteuerten sich)
Konvergenzkritereien schreiben Budgetdisziplin vor (max Neuverschuldung 3%) und Fordern eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und eine Deregulierung des öffentlichen Sektors diesem Strukturwandel widersetzt sich G durch starke Gewerkschaften

2001 Aufnahme in die Euro-Zone
der harte Euro bietet günstige Refinanzierungsmöglichkeiten
Wirtschaftswachstum und „Euro-Boom“, Profiteure sind das Banken-, Reederei-, Bau- und Rüstungswesen
aber: steigende Refinanzierungskosten, fortschreitende Deindustrialisierung, Anstieg der Erwerbslosen, Einbruch der Binnenwirtschaft und Unmöglichkeit der Währungsabwertung

2007/2008 Finanzkrise
Maritime Logistik und Tourismusbranche brechen ein und führen zur Rezession
Haushaltsdefizit wächst an, drohender Staatsbankrott

2010 Zwangsverwaltung durch Troika
Erstes Darlehen in Verbindung mit Austeritätsprogramm
„Hilfsgelder“ sind teure Kredite zu hohen Zinsen welche zur Tilgung von „Altschulden“ (an EZB, DB, BNP Paribas etc) benutzt werden müssen.
Lohnsenkungen um 30%, Kürzungen der Sozialtransfers, Verbrauchssteuern erhöht, Rentenkürzungen, Hauptlast tragen Arbeitnehmer, Rentner und sozial Schwache
Entmachtung der griechischen Politik durch Vorschriften an Parlament und Regierung („Financial Stability Funds“)
das Memorandum schreibt Liberalisierung und Privatisierung fest (Preisgabe öffentlichen Eigentums durch Verkauf von Bahn-, Post-, Wasser-, Elekrizitätswesen; Abschaffung von Tariflöhnen und anderen „Beschränkungen“)
Kürzung der Renten da Anhebung des Rentenalters auf 65 (EU- Durchschnitt: 60 Jahre)
obwohl die Rente jetzt schon nicht zur Lebenssicherung ausreicht
Staatspleite hätte Bankrott für einige deutsch-französische Banken und hohe Verluste für die Rüstungsindustrie bedeutet
Anhaltende Rezession durch „innere Abwertung“ welche das BIP weiter sinken lässt und eine Rückzahlung der Schulden unmöglich macht

2011 Erster Schuldenerlass via Zinssenkung
in Verbindung mit zweitem Austeritätspaket (Einstellungsstopp, Verschärfung des Sozialabbaus, Entstaatlichung des Gesundheitswesens, Mindestlöhne abschaffen) ->Umstrukturierung der gesamten Arbeits-, Verwaltungs- und Sozialpolitik nach neoliberalem Schema
Bewilligung des Zweiten Darlehens
Fortführung der neoliberalen Schocktherapie
Verkauf griechischer Staatsanleihen von deutschen und französischen Banken an steuerlich finanzierte „bad banks“

Mai 2010 erster Austeritätspakt mit EU-Komission, EZB und IWF:
Einfrierung der Beamtengehälter über 2000 Euro
Abschaffung aller Steuerbefreiungen
Reduzierung der Verwaltungsebenen von fünf auf drei (Kallikratis-Plan)
Reduzierung der Stadtverwaltungen von derzeit über 1000 auf 370
Streichung des 13. und 14. Monatsgehalts bzw. der Monatsbezüge im öffentlichen Dienst
Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst: Nur jede fünfte Stelle, die im öffentlichen Dienst frei wird, soll neu besetzt werden.
Anhebung des durchschnittlichen Rentenalters von 61,3 auf 63,4 Jahre
nochmalige Anhebung der Mehrwertsteuer von 21 Prozent auf 23 Prozent sowie Erhöhung der Steuern auf Tabak, Spirituosen und Kraftstoff.

Juni 2011 zweiter Austeritätspakt:
Gründung einer nationalen Treuhandbehörde
Die Vermögensteuer wird angehoben ebenso wie die Mehrwertsteuer für verschiedene Bereiche. Zudem wird eine „Solidaritätssteuer“ eingeführt.
Bis 2015 soll die Zahl der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst um 150.000 reduziert werden, die verbleibenden Beamten müssen länger arbeiten.
Sozialleistungen: Die Vermögen von Leistungsbeziehern sollen überprüft und eine Reihe von Leistungen gekürzt werden.
Im kommenden Jahr sollen im Rüstungssektor 200 Millionen Euro eingespart werden, von 2013 bis 2015 sollen es dann jährlich 333 Millionen Euro sein.
Gesundheitssystem: 2011 sollen 310 Millionen Euro und weitere 1,43 Milliarden bis 2015 gekürzt werden
umfassende Privatisierung der öffentlichen Infrastruktureinrichtungen, des öffentlichen Immobilienbesitzes, der öffentlichen Kommunikations- und Versorgungsbetriebe
(Beispiele: Internationaler Flughafen Athen, Hafen von Piräus, die Telefongesellschaft OTE, Wasserversorgungsbetriebe, die griechische Postbank, das staatliche Rüstungsunternehmen Hellenic Defense und touristische Erschließungsgebiete auf Rhodos und anderen Inseln)

3. Folgen und Konsequenzen
Arbeitslosenquote November 2011 20,9%
Einkommensungleichheit steigt
40 % Budget cuts im öffentlichen Gesundheitssystem
längere Wartezeiten, shortage an Medikamenten und sonstigem medizinischen Material
Krankheitsgeld gekürzt
Mortalitätsraten werden steigen
Inzidenz von Infektionskrankheiten steigt: HIV bereits um 52%
Scheidungen
Alkoholkonsum
unnatürlichen Todesarten (Suizide, Unfälle, Morde)
Suizidrate um 25% gestiegen
Um 40 % gestiegener Verkauf von Antidepressiva
Arbeitsmigration innerhalb der EU

„Another indicator of the effects of the crisis on vulnerable groups is increased use of street clinics run by NGOs. Until recently, these clinics mainly catered to immigrants, but the Greek chapter of Médecins du Monde estimates that the proportion of Greeks seeking medical attention from their street clinics rose from 3–4% before the crisis to about 30%.“ Lancet 2009

Fragen:
Was bedeuten diese teilweise sehr komplexen Zusammenhänge für unsere Arbeit im Medibüro?
Wo finden sich Beispiele für die Auswirkungen der Krise in Deutschland?
Was ist aus unseren einstigen Widerstandsprojekten geworden?
An welchen neuen Themen- und Projektfelder macht es Sinn zu arbeiten?
Welche neuen Politikformen sind dabei denkbar?

Arbeitsgruppe 1:
Wie funktioniert ein Medinetz (Einstiegshilfe und Austausch zu häufigen Problemen und Fragen)

Arbeitsgruppe 2:
Anonymer Krankenschein – Stand der Dinge, Perspektive, Vergleich Modelle, Ansätze

Arbeitsgruppe 3:
Abschiebungspraxis und Aktionsmöglichkeiten am Beispiel des Düsseldorfer Flughafens

Arbeitsgruppe 4:
Möglichkeiten der Sozial- und Rechtsberatung von Menschen ohne Papiere

Arbeitsgruppe 6:
Umgang mit nicht versicherten EU-BürgerInnen, vor allem Roma

Arbeitsgruppe 7:
Strategien und Werkzeuge zur gemeinsamen Kampagnen- und Lobbyarbeit

Arbeitsgruppe 8:
Die besonderen Herausforderungen in der Betreuung psychisch kranker Papierloser