Eine Düsseldorfer Familie
VON GÖKÇEN STENZEL/Rheinische Post
Was machen Semra und ihre Geschwister heute? Vor zwölf Jahren nahm ganz Düsseldorf Anteil an ihrem Schicksal.
Ein Haus in der Altstadt. Die Fassade sieht bröckelig aus, die Gitter vor den blinden Fenstern schützen leere Zimmer dahinter. Es soll bald abgerissen werden, deshalb sind fast alle Bewohner ausgezogen. Drinnen wartet ein trister Hausflur, durch die Luken sickert graues Licht. Nichts deutet darauf hin, dass die Geschichte der Familie, die hier als einziger Mieter auf einer der oberen Etagen verblieben ist, an Spannung schwer überboten werden kann.
„Wir ziehen auch bald aus“, sagt die 23-jährige Vesna Idic, nachdem sie den Gast in die gemütliche Wohnung geführt hat, die die Familie bewohnt. Die junge Frau ist der lebende Kontrast zu dem tristen Haus: Vital und gut gelaunt ist sie. Ihre Augen leuchten, wenn sie ihr Söhnchen Ricardo anschaut. „Die katholische Kirche“, erzählt Vesna weiter, „ist Eigentümer dieses Hauses und möchte hier etwas anderes hinbauen.“ Idic und die Kirche sind also noch immer eng miteinander verbunden. Doch davon später mehr.
Vesna: „Ich selbst habe zwar längst eine eigene Wohnung. Aber mein jüngerer Bruder, der hier wohnt, und meine Eltern suchen noch.“ Die Eltern, das sind der 51-jährige Vater Vlasta und seine 48-jährige Ehefrau Resmi, ein Paar, das fünf Jahre zwangsgetrennt war. Sie waren serbische Kriegsflüchtlinge, doch nicht das Gewirr des Krieges auf dem Balkan trennte sie, sondern der deutsche Staat. Da war der Krieg vorbei. „Es war furchtbar“, sagt der Vater heute, während er auf seiner Couch sitzt. Die dunklen Augen blicken nachdenklich durch die Brillengläser, auf den laufenden, stumm gestellten Fernseher achtet niemand. „Ich verstand die Welt nicht mehr.“
Während der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan hat Deutschland vielen Flüchtlingen Schutz gewährt. Nach der Beendigung des Krieges war die Grundlage für Regelungen, nach denen den Betroffenen Duldungen oder Aufenthaltsgenehmigungen erteilt werden konnten, entfallen: So las sich die amtliche Begründung. „Doch wir waren längst hier heimisch, unsere drei jüngeren Kinder sind in Düsseldorf geboren“, sagt Resmi rückblickend. Neben ihren Pflichten als Mutter hat sie stets gearbeitet, ist noch immer Zugehfrau bei einer stadtbekannten Unternehmerin und nun stolze Oma zweier Enkel: Die älteste Tochter Semra, 29, ist verheiratet und hat ebenfalls einen Sohn. Sie lebt in Siegburg „und hat dort eine Stelle als pharmazeutisch-technische Assistentin“. Vater Vlasta schaltet sich ein: „Wir arbeiten alle!“ Er selbst ist bei einem Sicherheitsunternehmen beschäftigt, seit er 2010 wieder und dauerhaft nach Düsseldorf kommen durfte – nach einer Gesetzesänderung. Er gehörte zu den Flüchtlingen, die inzwischen die Voraussetzungen für einen anderen Aufenthaltszweck wie Familiennachzug und Erwerbstätigkeit erfüllt hatten und so gut integriert waren, „dass Aufenthaltserlaubnisse für den neuen Aufenthaltszweck oder im Rahmen eines Bleiberechts erteilt werden konnten“, wie es im Amtsdeutsch heißt.
„Die Idics sind doch das beste Beispiel für Flüchtlinge, die zu Einheimischen wurden“, sagt Oliver Ongaro von der Flüchtlingsinitiative „stay!“, die im Juni seit zehn Jahren existiert und von Semra Idic mitgegründet wurde. Nach Angaben der Stadt leben heute 5487 Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis als international Schutzberechtigte in Düsseldorf, darunter sind 142 Asylberechtigte, 3984 anerkannte Flüchtlinge und 1361 subsidiär Schutzberechtigte. 2308 Personen sind als Asylbewerber registriert. Unter all diesen, da ist sich Ongaro sicher, sind unzählige wie die Idics. „Hinter den Zahlen stehen Schicksale. Menschen nehmen Anteil an Schicksalen. Nicht an Zahlen!“ Dass sich die Düsseldorfer Geschichte dieser Roma-Familie wiederholen könnte, daran glaubt auch Ongaro aber nicht: zu viel Drama, zu viel Happy End.
2006 sollte die ganze Familie nach Serbien abgeschoben werden. Sie lebte damals seit 15 Jahren in Deutschland, war nach Düsseldorf gekommen, weil sie hierher schon Kontakte hatte. Vater Vlasta Idic musste im November tatsächlich nach Serbien aufbrechen, lebte fortan in Pristina – und sah den Rest seiner Familie jahrelang nicht, bis die EU-Visa-Bestimmungen geändert wurden und er einreisen durfte. Die Mutter mit ihren vier Kindern bekam schließlich ein Bleiberecht, nach mehr als eineinhalb Jahren im Kirchenasyl. Es waren die katholischen Geistlichen um Monsignore Rolf Steinhäuser und Pater Peter Amendt, die als erste das Vorgehen der Behörden als unmenschlich verurteilten. Sie gewährten das erste Kirchenasyl in der Geschichte der Pfarre St. Lambertus ab 10. April 2006. Im Juni zogen Mutter und Kinder in die Gästeräume des Klosters, ein drittes Asyl gewährte später die Evangelische Kirche. Zu dem Zeitpunkt hatte sich der Unterstützerkreis für die Idics massiv erweitert, es gab Demonstrationen und Sternmärsche, Podiumsdiskussionen und Pressekonferenzen. Unsere Redaktion druckte ungezählte Leserbriefe, die den Verbleib der Familie in Düsseldorf forderten.
Und es gab die Schülerin Semra, damals 17, die wie eine Löwin für den Verbleib in ihrer Heimat kämpfte. Für sie kam es überhaupt nicht in Frage, in ein Land abgeschoben zu werden, das sie nicht kannte. Auch lehnte sie spätere Entscheidungen der Ausländerbehörde ab, nach denen sie allein hätte bleiben können: „Was soll das?“, fragte sie damals öffentlichkeitswirksam und entblößte die Absurdität der Amtsverfügung. Die Frage stellte sich in ähnlicher Form im vergangenen Jahr, als die Duisburger Schülerin Bivsi mit ihrer Familie nach Nepal abgeschoben wurde. Es dürfe nicht sein, heißt es jetzt übrigens von der städtischen CDU in Duisburg, „dass von Teilen der Öffentlichkeit und auch von Vertretern demokratischer Parteien rechtswidriges Handeln des Staates medial geradezu eingefordert“ werde. „Der Staat muss rechtsstaatliche Entscheidungen vollziehen“, hatte Gerichtspräsident Andreas Heusch gefordert.
Parallelen?